Nikolas Entdeckung

von Spectator2

Ein dickes Mädchen, bisher Außenseiterin, entdeckt ein Programm, das ihr Leben verändern soll. – mit Illustrationen

Nikola verließ die Schule durch den Hinterausgang. Der Versuchung, beim Stand des Hausmeisters vorbeizugehen und womöglich doch noch etwas zu essen zu kaufen, wollte sie widerstehen. Sie drängte sich durch die Meute von Unterstüflern. Nur weg von hier, weg von allen, die „Hey, Wal!“ oder „Achtung, die Dampfwalze!“ schrieen. Sie ging an den Fahrradstellplätzen vorbei, bis ihr Carina entgegenlief. „Niki, Niki! Gut, dass du kommst!“, schrie sie.

Carina war Nikolas Freundin, auch wenn ihr vorkam, dass Carina ihre Freundschaft nur ausnützte: Sie ließ sich von Nikola mitnehmen und Geld leihen, sie heulte sich bei ihr aus, wenn eine ihrer Männergeschichten wieder danebengegangen war. Seit Carina sich vor fünf Monaten neu verliebt hatte, war sie für Nikola aber praktisch nicht mehr zu erreichen gewesen.

„Niki, kannst du mich mitnehmen?“, bettelte Carina. In letzter Zeit war sie meist von André, ihrem Freund aus der Kollegstufe, mitgenommen worden.

„Sorry, hab leider keinen zweiten Helm dabei“, wehrte Nikola ab.

„Seit wann bist du so spießig?“, fragte Carina.

„Seit ich keinen Bock hab, meinen Führerschein zu verlieren“, antwortete Nikola, drehte sich um und ging zu ihrem Roller. Es war nicht nur das: Als Carina noch öfter mitgefahren war, hatte Nikola einmal einen Achsenbruch gehabt. Der Roller durfte nun einmal nur mit 170 Kilo beladen werden und sie selbst wog bereits 150 – oder weit mehr, denn sicher hatte sie in den letzten vier Wochen seit sie das letzte Mal auf die Waage gestiegen war noch zugenommen.

Sie entfernte den Zettel, auf dem „Achtung, Schwertransport!“, stand, von ihrem Roller, setzte ihren Helm auf und startete.

Nach etwa einer Viertelstunde kam sie an der Villa ihres Stiefvaters an, fuhr den Roller in die Garage und ging in ihr Zimmer, um Helm, Motorradjacke und Schuhe abzulegen. Im Spiegel sah sie, dass sie völlig durchgeschwitzt war – und das nur von den wenigen Treppen in der Schule und den eineinhalb Treppen von der Garage zu ihrem Zimmer. Sie wusch den verlaufenen Lidschatten von ihrer Wange, zog eine andere Bluse an, sprühte sich leicht mit Parfüm ein und ging ins Esszimmer, wo Frau Vogel sie schon empfing.

„Es gibt nur einen Gemüseauflauf heute, Fräulein Lehner“, sagte sie fast entschuldigend. „Ihre Mutter wollte das so; aber ich habe noch einige gute Sachen, wenn Sie wollen.“ Nikola schluckte einen Fluch herunter. Sie wusste, dass es nur ein bisschen Stress bei den Hausaufgaben brauchte, damit sie wieder schwach würde und Kuchen, Plätzchen oder was immer es gab verlangte. Sie brachte es aber nicht übers Herz, Frau


Vogel zu sagen, dass sie im Moment überhaupt keine Verwendung für ihre kalorienreichen Zuwendungen hatte.

Nikola aß langsam und allmählich gewöhnte sie sich an den Geschmack von Gemüse. Wenn sie nur am Nachmittag nicht wieder einen ihrer gefürchteten Fressanfälle bekam!

Schließlich war sie doch fertig und Frau Vogel fragte sie, ob sie ihr noch etwas bringen könnte.

„Kaffee, ja bitte, aber nichts mehr zu essen, danke!“, antwortete Nikola knapp. Sie ging wieder in ihr Zimmer, wobei sie langsam ging, um nicht ins Schnaufen zu kommen. Dort nahm sie eine CD aus dem Regal und drehte ihre Stereoanlage voll auf. Dies störte niemand, denn ihr Wohnzimmer war schalldicht und sie hatte eine eigene Türglocke, die direkt vor ihrem Schreibtisch läutete.

Frau Vogel läutete und stellte Kaffeekanne und Tasse, sowie Milch und Zucker auf den runden Eichentisch, an dem theoretisch Gäste sitzen konnten. Nikola goss sich eine Tasse ein und ging zum Schreibtisch, schaltete ihren Computer ein und zog den Aschenbecher von einem Sideboard zu sich. Bevor sie Hausaufgaben machte, wollte sie in Ruhe ihre Mails lesen, einen Kaffee trinken und ein bis zwei Zigaretten rauchen.

Interessante E-Mails hatte sie nicht, doch sie wollte weiter versuchen, das Passwort ihres Stiefvaters zu knacken. Der arbeitete wieder einmal an einem streng geheimen Projekt, doch hatte sie inzwischen herausgefunden, dass er nicht nur selbst wenig von Computersicherheit verstand, sondern auch seine Kollegen nicht dazu heranziehen konnte. Inzwischen hatte sie seinen Benutzernamen herausgefunden und das Passwort würde sie auch noch knacken! Sicher hatte es mit dem Namen ihrer Mutter zu tun! Mit „Franziska“ und „Franzi“ war sie bereits am Vortag gescheitert, doch in der Schule war ihr eingefallen, dass das Geburtsjahr ja dabei sein könnte. „Franzi1961“ scheiterte, doch mit „Franzi61“ hatte Nikola Erfolg. Sie las die Projektinformationen durch. Plötzlich stieß sie auf etwas, was sie neugierig machte: „Entwurf eines Serums, das ungenutzte Körperenzyme in Kraft umwandeln kann. Geheim!“, stand dort. Nikola klickte an und las. Ihre Hände schwitzten dabei. Das war ja allerhand!

Zur Beruhigung zündete sie sich eine neue Zigarette an. Danach las sie weiter. Kein Zweifel, Christian arbeitete an einem Projekt, das menschliche Körperzellen verstärken konnte. Fett konnte dabei in Muskelkraft umgesetzt werden. Ja, ihr Stiefvater war sogar schon relativ weit. Nikola kannte einige Formeln, aber nicht alle. Sie ging ins Wohnzimmer ihrer Eltern und schleppte das große Lexikon der Biochemie an. Genaugenommen war es veraltet, am neuen würde ihr Stiefvater, vermutlich sogar ihre Mutter mitarbeiten, doch Nikola fand darin, was sie noch nicht verstand. Und sie erlebte eine Überraschung:

Ihr Stiefvater, der berühmte Christian Volkmann, diese Koryphäe der Biochemie, hatte einen so einfachen Grund noch nicht herausgefunden, warum seine Erfindung bisher noch nicht funktionierte: Wenn sie sich nicht täuschte, und die Funde sprachen dagegen, dann waren es gerade Östrogene und Fette, die in der Brust von Frauen vorhanden waren, die umgesetzt werden konnten. Nikola schrieb sich die einzelnen Gleichungen auf, tippte sie in ein Berechnungsprogramm ein, sah die Ergebnisse an, wiederholte das und je mehr sie nachdachte, desto klarer wurde es ihr: Es war nicht genau zu sagen, wie hoch der Unterschied war, aber bei einer Frau würde weit mehr möglich sein als die von ihrem Stiefvater maximal erwartete „100-400-fache Kraftverstärkung“. Zudem war Körpergewicht ein großer Vorteil, was auch Christian gesehen hatte: „Es steht zu erwarten, dass eine Person mit 100 Kilogramm Körpergewicht eine etwa viermal so starke Kraft entwickeln kann wie eine Person mit 50 Kilogramm Körpergewicht.“

Nikola verbrannte sich fast die Finger, als sie sich eine neue Zigarette anzündete. Sie rechnete fieberhaft: Ihr Stiefvater hatte für einen Mann mit 80-90 Kilogramm über 100-fache Kraftver-stärkung errechnet und die Daten schienen ihr plausibel. Er erwartete auch beim doppelten Körpergewicht die vierfache Verstärkung. Sie startete ein von ihr selbst entworfenes Programm, das Unterschiede zwischen männlichem und weiblichem

Körperbau auswertete und gab die Daten ein. Manche Daten waren unsicher und so errechnete das Programm Werte, die, wenn sie sich nicht täuschte, zwischen einem zehnfach und einem fast 500-fach verstärkten Effekt bei Frauen gegenüber Männern lagen. Sie rechnete mit ihren eigenen Werten: Wenn ihre und ihres Stiefvaters Berechnungen stimmten, könnte sie ihre Körperkraft um mindestens das Viertausendfache, im günstigsten Fall mehr als das Hunderttausendfache verstärken und zugleich eine erheblich bessere Figur gewinnen. Nikolas Forschereifer erwachte: Sie musste die Substanz haben!

Leider waren die meisten Grundsubstanzen zwar leicht zu bekommen, den Versuchsaufbau konnte sie aber im Keller nicht ohne weiteres nachstellen. Dazu waren Vakuumröhren und anderes nötig, Dinge die, wie sie wusste, Tausende von Euros kosteten. Nur, wie sollte sie in das Labor ihres Stiefvaters kommen? Der Zugang war kennkartengeschützt und nur er selbst wusste die Geheimnummer.

Nikola überlegte, doch keiner ihrer Gedanken brachte sie einem Erfolg näher. Das noch vernünftigste war, Frau Spengler, Christians Sekretärin, dazu zu bringen, ihr die Kennnummer zu sagen – wenn die sie selbst wusste. Mit Frau Spengler verstand sie sich gut; oft hatte sie in ihrem Büro auf ihre Mutter oder ihren Stiefvater gewartet, als sie letztes Jahr ihren Führerschein gemacht hatte, denn die Fahrschule lag nahe der Universität.

Nikola sah auf den Aschenbecher. Elf Kippen lagen bereits darin. Während der Hausaufga-ben rauchte sie normalerweise drei bis vier Zigaretten, doch die machten sie auch nicht halb so nervös. Wenn sie nur an die Substanzen käme!

Den ganzen Abend ließ ihr dieser Fund keine Ruhe und in der Nacht entschloss sie sich schließlich, Frau Spengler am Donnerstag, wenn ihr Stiefvater abends eine Übung hielt, zu besuchen.


Punkt sechs Uhr verließ sie am Donnerstag die Villa und kurz nach halb sieben stoppte sie ihren Roller vor der Universität. Sie trat ein und sah Frau Spengler in der Raucherecke stehen. Sie widerstand der Versuchung, sich dazuzustellen, denn sie wusste, dass die Sekretärin ihr Büro nie absperrte. Sie fuhr mit dem Aufzug hinauf und schleppte sich zum Büro, wo sie die Schubladen der Sekretärin ungeniert durchforstete. Sollte sie erwischt werden, würde sie nur milden Tadel bekommen. Nach einigen erfolglosen Versuchen wurde sie fündig: Eine fünfstellige Nummer neben einer Kreditkarte. Sie verließ das Büro, gerade als Frau Spengler wieder kam, grüßte sie kurz und gab an, sie habe ihrem Stiefvater etwas bringen müssen. Frau Spengler glaubte es und Nikola ging zum Labor. Dort musste sie jedoch feststellen, dass ohne Karte nichts ging. Dann also warten!

Sie hatte nach einigen Wochen fast schon ihre Hoffnung aufgegeben, als ihre Mutter ihr mitteilte, dass sie und Christian das Wochenende zum Skifahren nutzen wollten und wissen wollte, ob sie mitfahren würde. Nikola verneinte: In der Schule habe sie zu viel am Hals.

Am Samstagmorgen stand sie früh auf, teilte Frau Vogel mit, dass sie am Mittag nicht da sein würde und durchforstete die Ablagefächer ihrer Mutter. Tatsächlich hatte die einen Schlüsselbund und die gleiche Kennkarte, die Nikola in Frau Spenglers Büro gesehen hatte, zu Hause gelassen. Nikola packte diese beiden Dinge, ihre Unterlagen, ihr Notebook und ihren Kittel ein und fuhr zur Uni. Unterwegs besorgte sie sich noch Knabberzeug und Zigaretten, denn beides gab es im Gebäude der Chemiker nicht, zumindest nicht am Samstag.

Es lief wie geplant: Sie sperrte den Chemikertrakt auf und hinter sich wieder zu, ging zum Labor ihres Stiefvaters, steckte die Karte in den Schlitz und gab die Kennnummer ins Display ein. Die Panzertür sprang auf und Nikola stand vor einer Reihe von Versuchsanordnungen. Aufgrund von Christians Gewissenhaftigkeit, die ihn alles exakt beschriften ließ, fand sie schnell die richtige und suchte nach den Substanzen. Sie zündete den Bunsenbrenner an, mischte die Flüssigkeiten und ließ das Ganze auf 150 Grad aufkochen. Lange musste sie kämpfen, um die richtige Temperatur zu erreichen. Als das Gebräu zehn Minuten die richtige Temperatur hatte, verließ sie das Labor zu einer Zigarettenpause. Als sie wiederkam, war die Flüssigkeit leicht abgekühlt, sodass sie weiter aufdrehen musste.

Bis zum frühen Nachmittag brauchte sie, bis sie Erfolg hatte, doch immerhin hatte ihr Gebräu die von ihrem Stiefvater erwartete Konsistenz. Sie versprudelte es im Verhältnis 1:5 mit Wasser und füllte das Extrakt in eine Flasche. Äußerst gewissenhaft spülte sie alles wieder ab, denn sie wollte absolut nicht, dass jemand etwas merkte.

Sie nahm einen kleinen Schluck aus der Flasche, doch spürte sie nichts. Enttäuscht ging sie hinaus zu ihrem Roller und versuchte, diesen hochzuheben. Es gelang ihr, so mühsam wie immer. Sie fuhr nach Hause, hielt vorher noch bei einem Supermarkt und besorgte sich eine Flasche Whisky. Das war frustrierend! So sehr hatte sie sich bemüht, war restlos durchgeschwitzt und nichts war erreicht!

Am Samstagabend schaute sie lange Videos, trank eine ganze Flasche Whisky, aß zwei Tüten Chips leer und rauchte fünfzehn Zigaretten. Inzwischen war ihr alles egal.

Am Sonntag erwachte sie mit Kopfschmerzen, doch ihr war ein Gedanke gekommen: Vielleicht stimmte eine Vermutung, die ihr Stiefvater verworfen hatte, dass sie erst ihre Muskeln trainieren musste, bevor das Extrakt Wirkung zeigte.

Am Nachmittag fuhr sie ins Fitnessstudio, das auch sonntags offen hatte. Sie legte 120 Kilo auf, bisher ihre beste Leistung, und hob sie mit großer Mühe, einmal, zweimal. Beim dritten Mal zitterte sie plötzlich am ganzen Körper, wurde einige Zentimeter hochgehoben, und als sie wieder klar im Kopf war, ging sie wieder unter das Gewicht. Sie hob es fast mühelos. Sie legte weitere Gewichte auf. Über 400 Kilo schaffte sie an diesem Tag. Sie spürte ein Kribbeln im Körper und als sie in den Spiegel schaute, kam ihr vor als hätte sie deutlich abgenommen. Zufrieden mit sich duschte sie, schminkte sich und zog sich an. Wieder zu Hause ging sie an den Geländewagen, das schwerste der fünf Autos ihrer Eltern und hob es ohne Schwierig-keiten hoch. Sie frohlockte. Sie hatte es geschafft, wenn sie auch nicht sicher war, ob sie die Formel optimal genutzt hatte.

Enttäuscht war sie, als sie am Montag wieder mit ihrer alten Figur aufwachte. Hatte sie am Ende nur geträumt, dass sie abgenommen hatte? Sie ging auch an diesem Tag ins Fitnessstudio; 200 Kilo schaffte sie, aber nicht mehr. Es gab zwar genug Männer, die ihr erstaunt zusahen, doch offenbar ließ ihre Kraft wieder nach. Zu Hause nahm sie erneut einige Tropfen des Elixiers ein und setzte sich den ganzen Abend vor ihren Computer, um nach Theorien für die genauen Wirkungsbedingungen zu suchen. Sie rechnete damit, dass eine eingenommene Substanz etwa acht bis zehn Stunden brauchte, um sich optimal im Körper zu verteilen und fand dies auch bestätigt. Nur wie viel genau war sinnvoll und wie viel Krafttraining war nötig, um das Potential optimal umzusetzen?

Die beiden folgenden Woche arbeitete sie wie eine Besessene an ihrem Projekt, dessen Mittelpunkt sie selbst war. Zweimal fuhr sie in die Universitätsbibliothek, wo sie ihrer Mutter vorschwindelte, Materialien für ein Schulreferat zu suchen, sie loggte sich in mehrere Internetforen, sowohl von Chemikern und Biologen als auch von Sportmedizinern ein und las und surfte jeden Tag bis weit nach Mitternacht, um noch genaueres über die Funktionsweise des menschlichen Körpers und die in dem von ihrem Stiefvater hergestellten Serum verwendeten Wirkstoffe zu finden. Sowohl die AG Internet in der Schule als auch den Tanzkurs versäumte sie, morgens verschlief sie mehrmals, fand keine Zeit mehr, sich zu schminken und kam auch einmal zu spät in die Schule. Sie trank jeden Tag eine Kanne Kaffee und mindestens zwei Liter starke Energydrinks und rauchte mindestens eine Schachtel Zigaretten.

Nach zwei Wochen wusste sie immerhin, teils aus Lektüre, teils aus Selbstversuchen, so viel: Das Serum wirkte am Besten, wenn sie acht Stunden nach der Einnahme Krafttraining machte (zwar konnte sie den Geländewagen auch sonst heben, aber nur ein- bis zweimal; wenn sie sich an die Zeit hielt, blieb ihre Kraft auch die nächsten Tage noch zwanzig- bis dreißigfach verstärkt, was sie merkte, als sie in der zweiten Woche auf das Serum verzichtete aber weiter Krafttraining machte und ihre Leistungen protokollierte. Einige Stunden – sie hatte noch nicht genau heraus, wie lange – nach der Einnahme blieb ihre Kraft mehr als tausendfach verstärkt.

Durch Lektüre und eigene Berechnungen fand sie heraus, dass die optimale Dosis etwa 1 Milligramm reiner Wirkstoff auf 1 bis 1,5 Kilogramm Körpergewicht sein dürfte. Mit ähnlichem hatte auch ihr Stiefvater, dessen maßgebliche Funde sie in ihren eigenen Dateien mit einer eigenen Sicherheitssoftware gespeichert hatte. Das Serum war zu etwa 50 Prozent konzentriert und sie hatte es 1:5 verdünnt, was bedeutete, dass sie etwa ein Gramm der Lösung brauchte. Da sie über einen Viertelliter gemacht hatte, würde das für mehr als ein halbes Jahr reichen.


Am folgenden Wochenende fuhren ihre Eltern mit ihr zu dem Schneider, der auch das Brautkleid ihrer Mutter gemacht hatte. Nikola sollte dort eine adäquate Abendrobe für den Abschlussball bekommen. Bevor ihr jedoch der Schneider Maß nehmen konnte, legte ihre Mutter ihr ein Unterkleid an, das ihr viel zu eng war; nur mit einiger Mühe brachte sie es über ihren riesigen Busen und ihren gewaltigen Bauch. Seltsamerweise hielt es auch, wenn sie einatmete. Dennoch: In diesem Korsett zu sitzen, war eine Qual.

Sie brauchte lange, um den entsprechenden Stoff und Schnitt zu wählen; der Schneider konnte auf einem Computer Bilder simulieren, wie sie mit dem gewählten Kleid aussehen würde und sie fand sich auf einigen sogar halbwegs ansehnlich; dafür musste sie eben einen Abend Enge aushalten.

In die Schuhe, die sie mit ihrer Mutter besorgte, bekam sie Einlagen. „Die Absätze sind zudem speziell verstärkt worden, damit sie dein Gewicht besser halten“, erklärte ihr die Mutter. Dennoch konnte Nikola mit den Absätzen kaum gehen geschweige denn tanzen. Eine lange Übung würde auf jeden Fall nötig sein, selbst wenn sie deutlich abnehmen sollte.

Am Sonntagabend fragte sie ihre Mutter genauer, wie denn normaler Stoff so hart gemacht werden konnte wie ihr „Korsett“. Die Mutter tat zuerst, als ob sie die Frage nicht verstanden hätte, doch dazu kannte Nikola sich zu gut aus:

„Mama, das fühlt sich an wie normaler Stoff, aber es verengt meine Taille um mindestens 20 Zentimeter; dass das nicht reißt, wenn ich den Bauch ausstrecke?!“

„Es ist ein fester Stoff, du hast Recht. Und ich habe ihn zusätzlich verfestigt, bis auf eine Spalte an der Hüfte, damit du leichter aufstehen kannst.“

„Womit hast du ihn verfestigt?“

„Mit einem Spray, das ich entworfen habe. Leider kann man damit nicht alle Stoffe bearbeiten, dein eigentliches Ballkleid zum Beispiel nicht.“

Nikola wollte genauer wissen, woraus das Spray bestand, doch die Mutter sagte nichts: „Ich hab ein bisschen Angst, dass du in deinen diversen Internetforen etwas weitersagst, und im Moment ist das alles noch streng geheim“, sagte sie „zwar schon getestet, aber dir ist klar, dass man die Sachen auch missbrauchen kann.“

Nikola war ärgerlich, dass ihre Mutter ihr nicht zutraute, ein Geheimnis für sich zu behalten, doch wurde sie umso neugieriger. Leider ging ihre Mutter sorgfältiger mit Passwörtern um als Christian, sodass es ihr nicht gelang, in den Datenpool der Mutter zu kommen. Sie musste hoffen, dass die Mutter irgendwann Material mit wichtigen Informationen zuhause vergaß.

Überhaupt hatte Nikola in den nächsten Tagen Pech: Sie konnte keine zuverlässigen Informationen über die Wirkung des Serums ihres Stiefvaters herausfinden, sie fand nichts über das Spray ihrer Mutter und am Montagabend hatte sie außerdem noch einen Virus eingefangen. „Verdammt!“, schrie sie und drosch mit der Faust auf ihren Schreibtisch. Das massive Eichenholz splitterte und sie konnte froh sein, dass sie den Tisch nicht zerbrochen hatte. Sie hatte in ihrem Ärger völlig vergessen, wie stark sie war.

Sie ließ das Checkprogramm laufen, um die Größe des Schadens zu sehen und stand auf. Zum ersten Mal seit fast drei Wochen konnte sie der Versuchung nicht widerstehen – und damals hatte sie noch auf dem Weg zur Küche kehrt gemacht, doch diesmal schloss sie die Speisekammer auf und wurde schnell fündig: Zahllose Tüten mit gesalzenen Erdnüssen und Salzstangen sowie Keks- und Schokoladenpackungen in verschiedener Größe lagen im Regal. Sie nahm einen ganzen Arm voll mit, fuhr hinauf in ihr Wohnzimmer, schaltete den Fernseher ein, legte sich auf die Couch und begann, in sich hineinzustopfen, bis sie nicht mehr konnte. Danach rauchte sie noch eine letzte Zigarette, bevor sie Fernseher und Computer ausschaltete und ins Bad ging. In der Nacht sah sie klarer: Sie würde ausprobieren müssen, wie sich größere Dosen auswirkten und genau Buch über die eingenommenen Dosen, ihr Gewicht und ihre Kraftleistungen am Abend und am nächsten Morgen führen müssen.

Am nächsten Tag in der Schule entwarf sie heimlich eine Tabelle für Gewicht, Taillenumfang, Bizeps- und Oberschenkelumfang, Anzahl der erfolgreichen Stemmversuche (das war die einzige Möglichkeit zur Kraftmessung, denn im hauseigenen Fitnessraum standen nur 400 Kilo Gewicht zur Verfügung und die stemmte sie seit einigen Tagen ohne jedes Problem). Jeweils morgens und abends wollte sie darüber Buch führen, auch wenn sie dazu früher aufstehen müsste, um in den Fitnessraum gehen und danach noch duschen zu können.

In einem Kaufhaus erwarb sie ein Schneidermaßband und als sie sich am Abend zum Krafttraining umzog, stellte sie sich auf die Waage. Die zeigte ein „Error“ an. Verdammt! Schwer widerstand sie der Versuchung, das Gerät irgendwohin zu schleudern.

Es war eines der zahllosen Beispiele dafür, dass sie sich weigerte, zu akzeptieren, dass ihr Gewicht längst nicht mehr nur ein Schönheitsproblem war. Die Waage ging nun einmal nur bis150 Kilo und sie wog mehr, doch war sie nicht bereit, eine neue zu kaufen. Es war ebenso wie mit ihren Kleidern und Schuhen: ihr erstes Tanzstundenkleid hatte sie eine Nummer zu eng gekauft, mit dem Ergebnis, dass sie es nie anziehen konnte. Im Sommer hatte sie sich drei Paar Stöckelschuhe zugelegt, obwohl sie eigentlich schon seit einem Jahr nicht mehr damit gehen konnte. Im Mai war sie zweimal in der Schule mit hochhackigen Schuhen umgeknickt, einmal auf der Treppe, wo sie noch mithilfe des Geländers hochgekommen war, nachdem sie ihre Schuhe ausgezogen hatte, und einmal im Hof, wo sie unter Gelächter der Mitschüler völlig hilflos liegengeblieben war. Auch Herr Wenzel, der Sportlehrer, hatte sie nicht hochziehen können, doch gemeinsam mit einem anderen Lehrer hatte er es schließlich geschafft. Seitdem trug sie wenigstens keine Stöckelschuhe mehr, gekauft hatte sie aber dennoch neue. Zum Aufstehen aus dem Sitzen brauchte sie zusätzlichen Halt, vom Bett oder der Couch hatte sie es zweimal schon nicht auf Anhieb geschafft und brauchte oft fünf Minuten oder mehr.


Sie entschied sich schließlich, eine stärkere Waage zu kaufen, wenn sie nach einer Woche nicht unter 150 Kilo Körpergewicht kommen sollte und nahm sich vor, in dieser Zeit rigorose Disziplin zu halten. Fressattacken wie zwei Tage vorher – die Reste hatte sie bis auf Kleinig-keiten schon vertilgt – waren ebenso tabu wie die Tüte Gummibärchen bei jedem Einkauf oder die Bratwurstsemmel, wenn sie nachmittags noch in die Stadt fuhr. Immerhin, die übrigen Maße bekam sie hin.

In der ersten Woche schaffte sie es tatsächlich, was das Essen anging, Disziplin zu halten. Sie versuchte es wieder mit Schlankheitstabletten und rauchte noch mehr als vorher, einmal hatte sie beim Einkaufen schon eine Tüte Gummibärchen im Wagen, legte sie aber doch wieder zurück. So kam sie zu folgenden Ergebnissen:


Di, 4.11. Mi, 5.11. Do, 6.11. Fr., 7.11. Sa, 8.11.

21.00 7.00 21.00 7.00 21.00 7.00 21.00 7.00 21.00

Gewicht (kg) >150 >150 >150 >150 >150 (ver- >150 149,2 >150

Taille (cm) 161 166 158 162 155 pennt) 143 157 135

Oberarm (cm) 48 43 49 46 51 Scheiße! 55 53 58

Oberschen-

kel (cm) 69 62 72 68 75 77 75 79

Hebungen 94 51 95 66 100 103 79 105

gemessen morgens vor, abends nach dem Training


Seit Donnerstag nahm sie die doppelte Dosis ein und hatte den Eindruck, dass sich nicht so sehr ihre Kraft, wohl aber ihr Körperbau dadurch deutlicher veränderte. Dem musste sie auf jeden Fall auf der Spur bleiben.

Am Samstag versuchte sie, ein längeres Stück in ihren Ballschuhen zu gehen. Es kam, wie es kommen musste: Mitten auf dem Hof knickte sie um und stürzte. Schlimme Erinnerungen an den Mai wurden wach. Ihr Stiefvater war nicht daheim und ihre Mutter würde ihr kaum aufhelfen können. Sie stützte sich ohne viel Hoffnung mit dem Arm ab, brachte die Füße auf den Boden und schaffte es tatsächlich, alleine aufzustehen. Sie stolperte zwar noch einmal, fing sich aber wieder. Sie jubelte innerlich: Mit ihrer übermenschlichen Kraft konnte sie endlich ihren eigenen Körper manövrieren, als ob sie Normalgewicht hätte. Wenn das so war, dachte sie, dann war ihr Watschelgang vielleicht gar nicht mehr nötig. Sie bemühte sich um gerade Haltung und tatsächlich, es ging. Am Samstag ging sie über eine halbe Stunde ohne zu stürzen, am Sonntag versuchte sie es in ihren bisher nie getragenen Sommerschuhen mit Pfennigabsätzen. Auch damit hielt sie eine Viertelstunde durch, zwar mit zwei Stürzen, doch kam sie alleine wieder hoch, das zweite Mal sogar, ohne die Schuhe ausziehen zu müssen.

Am Sonntagabend machte sie noch eine andere Entdeckung: Schon seit Samstag spürte sie im Körper ein Vibrieren, während sich ihre Taille zusammenzog. Am Sonntag wurde es stärker und hob sie aus ihrer Sitzposition. Sie atmete tief ein. Ihr Bauch wurde noch einmal deutlich dünner, während ihre Haut sich leicht verdunkelte, sodass sie fast bronzefarben wirkte. Es kribbelte immer noch in ihr und sie atmete schnell. Ihr Bauch füllte sich wieder, doch auch ihr Busen wurde größer und fester und der bronzene Ton ihrer Haut blieb. Nur: War dieser messbar? Sie legte die Gewichte wieder in ihre Position zurück, ging dann in ihr Zimmer, duschte, stieg auf die Waage, die wieder ein „Error“ lieferte, maß ihre Taille (128), ihre Oberarme (60) und ihre Oberschenkel (80). Offenbar war der Ton ihrer Haut ein Ergebnis des geringeren Wachstums der beiden letztgenannten Maße.

Bevor sie sich wieder anzog, fotografierte sie sich per Selbstauslöser nackt. Sie wollte wissen, ob ihre Hautfarbe sich wirklich veränderte.

Am nächsten Morgen machte sie ein neues Nacktfoto von sich selbst und verglich die Bilder am Mittag auf dem Computer. Tatsächlich gab es Unterschiede im Farbton ihrer Haut. Sie beschloss, dass diese Fotos nun Bestandteil des Selbsttests werden sollten.

In der folgenden Woche verstärkte sich ihre Beobachtung: Abends nach dem Training war ihre Taille durchschnittlich um 20-30 Zentimeter schmaler als morgens nach dem Aufstehen, ihr Gewicht jedoch höher. Der bronzefarbene Ton ihrer Haut hielt ab Mittwoch auch die Nacht hindurch und ihre Taille wurde auch nach dem morgendlichen Training schon schlanker. Am Donnerstag zog sie einen Rock an, den sie im Frühjahr gekauft hatte und der ihr seit April zu eng war. Sie musste sogar ein wenig Energie wieder in ihren Bauch pumpen, damit ihr der Rock ohne Gürtel passte.

Am selben Tag hatte sie in der Schule ein Erlebnis: Sie zog sich wie oft in eine Nische hinter den Turnhallen, die seit jeher als heimliche Raucherecke genutzt wurde, zurück. Dort war sie aber noch weder zum Rauchen noch zu sonst etwas gekommen, als zwei Jungen aus der Unterstufe sie schubsten: „Hey, Walross, fang uns doch!“, kreischte der eine, bevor beide wegliefen. Nikola wusste, dass der Versuch aussichtslos war, doch sie lief trotzdem hinterher und holte tatsächlich einen der beiden ein, packte ihn an der Jacke und fauchte, er solle sie in

Ruhe lassen. Der Junge röchelte plötzlich, sodass sie Angst bekam. Sie ließ los und er fiel um, rappelte sich aber bald wieder auf und rannte davon. „Hilfe, Killerwal“, kreischte er. Sein Kumpel war auf einen Baum geklettert. Natürlich machte Nikola nicht den Versuch, ihm nachzuklettern, doch rüttelte sie leicht am Baum und plötzlich bewegte sich dieser: Sie hatte ihn ausgerissen und der Junge hing in der Luft. Er sprang herunter und lief ebenfalls weg, während Nikola sich Mühe gab, den Baum wieder einzupflanzen. Sie verzichtete darauf, den Jungen hinterher zu laufen und hoffte, dass sie nichts erzählten.

Am Freitag wurde sie in Ruhe gelassen, doch am Abend kamen ihre Mutter und auch Christian relativ bald, sprich zum Abendessen, nach Hause und als Nikola nach dem Essen aufstehen wollte, sprach Christian sie an: „Nikola! Bleib bitte kurz hier, ich muss mit dir reden!“

Gehorsam setzte sie sich wieder. „Wir finden es ja gut, dass du dich neuerdings so um deine Figur kümmerst, aber die Frau Vogel hat gesehen, dass im Kraftraum heute morgen 400 Kilo aufgelegen sind. Was hat das zu bedeuten?“

Nikola erschrak. Sie hatte am Morgen vergessen, die Gewichte wieder wegzuräumen. „Ich…ich wollte nur etwas ausprobieren…“, stotterte sie.

„Was denn? Für so intelligent habe ich dich gehalten, zu wissen, dass niemand so viel stemmen kann. Es sei denn…“

„Was?“, fragte sie so unschuldig wie möglich.

„Es hätte jemand übermenschliche Kräfte oder starkes Doping geschluckt.“

Er wollte sie dazu bringen, zuzugeben, dass sie seine Formel gestohlen hatte. Ein Schachzug war das, und Christian spielte hervorragend Schach; Nikola allerdings auch:

„Das gibt es doch gar nicht“, antwortete sie. „Doping kann vielleicht zwei- bis dreimal die Kraft eines Menschen verstärken.“

„Stimmt nicht ganz. Man kann mit der entsprechenden Formel sehr viel mehr erreichen.“ Deckung aufgehoben und ein Offizier greift an.

„Soll das heißen, du hast so eine Formel entdeckt?“, fragte Nikola. Bauernopfer als Köder.

„Das habe ich. Ich habe aber den Verdacht, dass ich nicht mehr der einzige bin, der sie kennt.“ Auch ein Köder; jede Antwort konnte falsch sein!

„Das wusste ich nicht“, log Nikola.

„Hast du nie kräftestärkende oder appetithemmende Mittel genommen?“, machte Christian den nächsten Vorstoß.

„Doch, eigentlich regelmäßig“, konnte Nikola nun wieder ehrlich antworten.

„Und, woher hattest du sie?“

„Gekauft oder im Internet bestellt. Gibt ja genug davon!“

Er sah sie ungläubig an. Danach fragte er: „Wo im Internet?“

„Ich weiß es nicht mehr genau!“, antwortete Nikola. „Außerdem hab ich zu tun.“ Sie stand auf und verließ das Zimmer.

„Nikola, warte!“, rief Christian, „Aua!“

Nikola drehte sich um. Sie hatte ein leichtes Kitzeln in ihrem Rücken gespürt und sah, dass Christian gegen sie gestoßen und dabei zu Boden gefallen war. Offenbar hatte er versucht, sie am Arm festzuhalten, doch sie hatte überhaupt nichts gespürt.

Christian schien allerdings auch nicht wirklich etwas passiert zu sein, denn er begann sofort: „Ich habe Angst, dass die Konkurrenz in meine Forschung eingedrungen ist. Einer meiner Assistenten hat gemeldet, dass jemand den Code im Computerprogramm geknackt hat.“

„Kann man den nicht entsprechend sichern?“

„Offensichtlich nicht gut genug. Irgend jemand ist durchgekommen. Genug davon: Kommt dir die Bezeichnung Ferrokarbonat bekannt vor?“

Nikola wusste, dass das einer der Grundstoffe war, aus denen das Präparat ihres Stiefvaters bestand, doch zuckte sie mit den Schultern. „Ich weiß die Seiten nicht mehr, die ich aufgerufen habe; ich kann dir höchstens die Packungen zeigen“, sagte sie. Ein geschickter Schachzug, denn sie besaß wirklich einige Arten von Schlankheitstabletten; so konnte sie den Verdacht gegen sich ausräumen, wie sie hoffte.

„Holst du sie bitte her?“, ging Christian in die Falle.

Fröhlich pfeifend ging Nikola aus dem Esszimmer hinauf in ihr Wohnzimmer, holte zwei Packungen Tabletten aus dem Schrank und brachte sie Christian. Es waren ganz normale, bei ihr wirkungslos gewesene Schlankheitstabletten. Christian schaute sie sich an und wirkte zufrieden. „Tut mir Leid“, sagte er, „vielleicht leide ich unter Verfolgungswahn, aber die ganze Sache ist hochsensibel. Es sind kriminelle Organisationen, die gerne solche Kräfte für ihre Leute hätten – und deshalb bitte ich dich: falls du in diesem Zusammenhang etwas im Internet finden solltest, sag es mir!“

Nikola atmete auf: Sie war nicht verdächtigt worden. Langsam ging sie in ihr Zimmer zurück, wo ihr ein Gedanke kam: Warum hatte sie nicht gespürt, dass Christian sie am Arm gefasst und sich mit dem Kopf an ihrem Rücken angestoßen hatte. Machte ihre übermensch-liche Kraft auch ihre Haut härter? Sie hielt die Flamme ihres Feuerzeugs gegen ihre Hand und spürte nichts. Sie nahm ihr Taschenmesser und stieß es auf ihre Handfläche; das Messer verbog sich. Tatsächlich, sie war unverwundbar oder zumindest fast.

Am Freitag bekam sie ihr Ballkleid und inzwischen konnte sie ihren Körper so zusammenziehen, dass es ihr ohne Korsett passte. Sie musste sich freilich ein bisschen konzentrieren, denn wenn sich ihr Körper ausdehnte, würde der dünne Stoff kaum halten.

Am Wochenende kam Carina zu Besuch. Die Mädchen unterhielten sich lange, wobei Nikola vermied, der Freundin zu erzählen, was sie in letzter Zeit getan hatte. Statt dessen sprach sie über Filme, lästerte über Mitschüler und sagte andere belanglose Dinge. Mehrmals braute sie Cocktails, bis Carina mit schwerer Zunge sprach. Dennoch fiel ihr plötzlich etwas auf: „Niki, kann das sein, dass du gerade eine Zigarette in zwei Zügen geraucht hast? Und nicht das erste Mal! Was hast denn du für eine Lunge?“

Nikola gab sich unschuldig und machte Carina glauben, dass sie nur nicht mehr genau genug sah. Zur Sicherheit gab sie ihr noch ein Glas Whisky mit Cola, sodass Carina endgültig nur noch kriechen konnte. Sie fiel sogar auf dem Weg zum Bad um. Nikola richtete inzwischen die Couch in ihrem Wohnzimmer als Bett her, hob Carina darauf und deckte sie zu, bevor sie selbst schlafen ging.

Als sie am Morgen aufwachte, fand sie Carina in einem traurigen Zustand vor: Das Mädchen hatte mehrmals speien müssen und war nicht wachzubekommen. Wie konnte es sein, dass sie selbst überhaupt nichts spürte, weder am Abend vorher, noch jetzt? Sie hatte sicher nicht weniger getrunken. Freilich, sie wog mindestens das dreifache und sie hatte in ihrem gut durchlüfteten Schlafzimmer, Carina dagegen im völlig verräucherten Wohnzimmer übernachtet, aber dass die Unterschiede so extrem waren. Möglicherweise wurde sie durch ihre Kraft immun gegen Alkohol.

Sie holte Kopfwehtabletten für Carina aus der Hausapotheke, frühstückte in aller Ruhe und kümmerte sich um das arme Mädchen, während sie nur halbherzig weiter arbeitete. Sie beugte sich sogar zum Rauchen aus dem Fenster, damit Carina eine bessere Luft um sich hatte.

Erst gegen Mittag brachte sie Carina nach Hause. Inzwischen war die soweit stabil, dass ihre Eltern nicht sofort etwas merkten.

Am Nachmittag erkannte Nikola mittels eines Computerprogramms, dass das Mittel ihres Stiefvaters weiter verstärkt werden konnte. Im Internet fand sie die nötigen Substanzen, die zudem den Vorteil hatten, dass sie nur knapp über Zimmertemperatur erwärmt werden mussten. Wenn sie ihr Zimmer stärker heizte, müsste es gelingen!

Gleich am folgenden Montag machte sie sich an den Versuch und nahm das neu gewonnene Serum ein. Es hob sie beinahe in ihrem Stuhl hoch. Sie ging wieder zum Kraftraum, legte die 400 Kilo auf und hob sie hoch – und wunderte sich, wie leicht es war. Nicht, dass ihr mit Christians Entdeckung schwer gefallen wäre, 400 Kilo zu heben, aber nun spürte sie das Gewicht praktisch gar nicht. Dennoch wirkte die kaum spürbare Anstrengung, denn plötzlich sah sie, dass sie in der Luft schwebte. Beim Versuch, zu Boden zu kommen, stieg sie noch weiter auf, beinahe bis zur Decke, ehe sie langsam wieder zu Boden schwebte. Sie landete weich auf den Füßen. Einige Sekunden brauchte sie, bis es ihr klar wurde: Kein Zweifel, sie konnte fliegen! Doch das war nicht nur schön, sondern auch gefährlich. Wenn sie ihre Flugfähigkeit nicht unter Kontrolle bekam, konnte sie sich kaum mehr normal bewegen. Sie musste es unbedingt unauffällig testen!


Am Freitag war Christian wieder beim Abendessen zu Hause. Nach diesem fragte er Nikola streng: „Warum hast du mich angelogen?“

Nikola tat, als ob sie nichts wüsste. Christian wurde wütender: „Du kannst vielleicht besser mit Computern umgehen, aber ich bin auch nicht von Dummsdorf! Du kannst dich gern selbst auf dem Video sehen. Ich weiß ja, dass du ziemlich viel trainiert hast, aber dass du von Natur aus 400 Kilo mit einer Hand stemmen kannst, glaub’ ich dir nicht, und dass du durch die Luft schweben kannst, auch nicht. Also: Woher hast du die Formel?“

Nikola schwankte, ob sie gestehen sollte oder nicht. Sie entschied sich für die Ehrlichkeit: Was konnte Christian ihr schon tun? Sie konnte das Serum selbst herstellen und damit war sie ihm überlegen. Sie holte tief Luft: „Ja, ich

habe das Passwort geknackt“ gestand sie.Christian schien aufzuatmen. „Du allein also? Oder wer weiß noch davon? Hast du mit irgendwem darüber gesprochen? Auch anonym im Internet?“

Nikola schüttelte den Kopf. Sie war sich einigermaßen sicher, dass ihre eigenen Dateien nicht behackt wurden.

„Pass mir ja auf, dass auch niemand deine Dateien bekommt – oder lösche sie! Außer uns beiden sollte niemand wissen, dass du einen Selbstversuch an dir unternommen hast.“

„Willst du die Daten nicht selber verwerten?“, fragte Nikola. Wenn er nun davon wusste, warum sollte sie seine Möglichkeiten nicht nutzen?

„Ich wollte, ich könnte das, aber es ist zu gefährlich. Ich habe die Versuchsreihe auslaufen lassen, weil ich das, was meine früheren Auftraggeber vorhatten, nicht mehr unterstützen konnte. Sie wollten mich schon erpressen, weiter zu machen. Ich habe einige Informationen gelöscht, unter anderem auch alle Hinweise darauf, dass die ursprüngliche Formel für den weiblichen Körperbau erheblich besser taugt als für den männlichen.“

„Das hab ich aber gemerkt.“

„Zum Glück sind die Leute, die mich sonst behackt haben, in diesen Dingen weniger firm als du. Wir müssen jetzt gemeinsame Sache machen: Du hast dein Elixier und kannst es weiter brauen, du darfst es aber keinesfalls veröffentlichen und keinesfalls allen Leuten zeigen, wie stark du bist, sonst sind wir beide tot.“

Nikola lachte auf: „Da müssen sie sich anstrengen!“, antwortete sie, während sie den schweren Eichentisch mit der linken Hand über den Kopf hob. Danach nahm sie ein scharfes Messer und stieß es mit voller Kraft gegen den Oberarm, sodass es sich verbog. „Schau, ich bin unverwundbar! Und dich werde ich natürlich beschützen!“

Nikola“, rief Christian. „Unverwundbar gibt es nicht. Mag sein, dass normale Pistolen oder Gewehre dir nichts tun können, aber es gibt immer neue Waffen. Und wenn sie einmal soweit sind, werden sie nichts unversucht lassen, dich umzubringen oder die Formel von dir zu erpressen – oder von mir und du kannst nicht immer bei mir sein.“

„Du kannst es ja machen wie ich. Ich denke, du findest auch ein Elixier, das auf Männer genau so wirkt wie dieses auf Frauen“, antwortete Nikola.

„Möglich. Bisher habe ich keines und ich kann nicht mit anderen Professoren darüber sprechen, weil es zu gefährlich ist. Die Auftraggeber müssen glauben, dass die Versuche gescheitert sind. Das ist für alle Beteiligten besser. Nur – dazu brauche ich jetzt auch deine Hilfe.“

„Inwiefern?“

„Sei bitte so nett und lösche die Formel aus deinem Computer und sprich mit niemand darüber. Außer uns beiden und deiner Mutter darf niemand wissen, dass es diese Formel gibt und dass sie wirkt. Dazu ist auch wichtig, dass du deinen Mitschülern nicht zeigst, wie stark du bist. Ich weiß, dass der Gedanke für dich verlockend wäre, in die Schule zu fliegen oder auch nur, mit einer Modelfigur herumzulaufen, aber es wäre sehr gefährlich, dies zu tun.“


Nikola musste Christians Argumente schließlich einsehen. Sie kannte sich mit Waffen nicht aus, wusste aber, dass es Waffen gab, die selbst den härtesten Panzer zerstören konnten.

„Ich kann mir sogar gut vorstellen, dass dieselben Leute, die dieses Projekt finanziert haben, auch Waffen entwickeln lassen, mit denen sie Leute wie dich verletzen können“, sagte Christian. „Vielleicht entwickelt noch jemand anderes ein ähnliches Serum. Ich bekam meinen Auftrag anonym, wer das Projekt finanziert hat, weiß ich nicht. Nur eines ist sicher: Diese Leute haben Geld, sind schlau und skrupellos.“

„Weiß Mama von dem Projekt?“, fragte Nikola.

„Deine Mutter hat den Auftrag bekommen, unzerstörbare Kleidung herzustellen. Das war kurz nachdem ich sie angestellt habe. Sie durfte mir als ihrem Vorgesetzten nichts davon sagen. Sie hat es mir erst erzählt, als ich mich in sie verliebt habe.“

„War das auch das Material für mein Korsett?“

„So ist es. Aber deine Mutter hat ihre Dateien genauso gelöscht wie ich die meinen. Sie dürfen nicht in falsche Hände gelangen. Ich habe schon Drohungen bekommen.“


Nikola speicherte ihre Daten auf CD und löschte sie vom Computer. Gleichzeitig schwor sie sich aber, mehr über das Projekt herauszufinden. Sie arbeitete ebenso verbissen am Computer wie nachdem sie zum ersten Mal fündig geworden war.

Wenn sie nicht gerade am Computer saß, machte sie weiter Krafttraining und versuchte, ihre Flugfähigkeit unter Kontrolle zu bekommen. Es dauerte und sie fluchte schon, doch nach drei Wochen hatte sie Start und Landung unter Kontrolle. Noch freilich schwebte sie nur im Sportraum oder zwischen den Bäumen im Garten hin und her, wo niemand sie sehen konnte. Anfang Februar versuchte sie dann ihren ersten Langstreckenflug, doch sie stieß sich mit solcher Wucht vom Boden ab, dass ihr Körperfett nach oben drückte und sie ihren Rock verlor. Sie flog sofort wieder zu Boden, um den Rock zu holen, doch beim nächsten Auffliegen wurde sie nervös und kam ins Schlingern.

Es dauerte mehrere Tage, bis sie sicher fliegen konnte und noch länger, bis ihr auch eine Landung gelang. Ein zusätzliches Problem war, dass niemand sie sehen durfte. Sie musste schnell genug so hoch kommen, dass man sie vom Boden aus zumindest nicht mehr erkannte. Obwohl sie über eine Woche Steilflüge übte, gelang ihr das nicht. Solange das so war, konnte sie in der Nähe des Hauses ihrer Eltern nicht fliegen.


Sie erkundete daher die Umgebung mit ihrem Roller und hoffte, irgendwo im Wald eine Stelle finden zu können, wo sie Anlauf nehmen konnte und genug Platz hatte, um rechtzeitig hoch über den Bäumen zu sein. Dabei bekam sie zweimal Ärger, da sie auf Wegen fuhr, die für Kraftfahrzeuge verboten waren.

Anfang März hatte sie endlich ihren Startplatz gefunden, an dem sie es täglich mehrmals versuchte. Sofern ihre Mutter nicht zuhause war, fuhr sie meist nach dem Mittagessen dorthin und drehte mehrere Runden zwischen den Bäumen, doch kam sie selten hoch. Sie fragte sich, ob es an ihrem Gewicht lag, doch nach den Berechnungen wurde ihre Kraft umso größer, je schwerer sie war. Außerdem waren die Flugversuche anstrengend, von ihrem üblichen Pensum an Krafttraining nicht zu reden. So hatte sie kein schlechtes Gewissen, wenn sie sich, bevor sie nach Hause fuhr, noch ein Eis oder ein Stück Kuchen gönnte und zu Hause ständig Süßigkeiten aß.

Sie war schon am Verzweifeln, als ihr nach zwei Wochen endlich ein beinahe senkrechter Start gelang, bei dem sie weder Kleidung verlor noch zerriss. Schnell war sie hoch über den Bäumen und schwebte.

Hoch über den Dörfern flog sie dahin, so hoch, dass sie die einzelnen Orte kaum unterscheiden konnte. Sie hielt sich ungefähr in Richtung Süden, sah einen breiten Fluss unter sich und nach zehn Minuten die Silhouette einer Großstadt. Das musste München sein!

Sie kreiste lange um die Stadt und suchte einen Platz, wo sie landen konnte. Endlich fand sie ein Fabrikgelände, das aus der Höhe ziemlich wenig frequentiert zu sein schien.


Sie ließ sich fast senkrecht fallen und landete auf einer Art Schrottplatz des Geländes.


Nikola ging langsam über den Platz und suchte nach dem Ausgang. Es gab nur ein Tor, das mit einer dicken Eisenkette verschlossen war. Sie überlegte, wie sie möglichst unauffällig hinaus gelangen könnte und entschied sich schließlich dafür, die Kette zu zerreißen. Als sie mit ihren Händen danach griff, war ein lautes Geräusch zu hören, doch die Kette riss wie Papier.


Danach ließ sich die Tür leicht öffnen. Nikola trat auf eine heruntergekommene Straße. Sie hatte keine Ahnung, in welchem Stadtviertel von München sie sich befand. Aufs Geratewohl ging sie eine Straße entlang, kam auf die Hauptstraße, an der sich einige Geschäfte befanden. Hier fuhr auch die Straßenbahn. Sie wollte auf jeden Fall ins Zentrum; hier gab es vor allem billige Ramschläden, deretwegen sie nicht in eine Weltstadt hätte fliegen müssen.


Sie stieg in die Straßenbahn, setzte sich und holte einen Spiegel aus der Tasche. Ihre Frisur hatte sich während des Flugs kaum geändert. Auch ihre Schminke war fest geblieben. Zufrieden mit sich holte sie ihren MP3-Player heraus und tauchte in die Welt der Musik unter.


Im Stadtzentrum stieg sie aus und fand schnell teure Bekleidungsgeschäfte. Sollte sie einfach ihre Körperzellen zusammenpressen und sich sofort in ihrer Wunschgröße eindecken?


Sie entschied sich schließlich dagegen: Es würde zu sehr auffallen, wenn ihre Kleider ihr um so viel zu weit würden, wie sie es zweifellos sein würden, wenn sie ihren Körper auf eine schlanke Größe zusammenpressen würde. Außerdem hatte sie zu Hause weit mehr Zeit, genau zu überlegen, wie sie sich am besten gefiel.


So sah sie sich zwar in einigen Modehäusern um, kaufte aber nichts, sondern kehrte zu dem verlassenen Fabrikgelände zurück, wo noch nicht einmal aufgefallen war, dass die Tür aufgebrochen worden war, und flog von dort aus nach Hause.



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